Als ob es eine Glühwürmchen-Siedlung wäre, so empfängt uns das Dorf Cachora. Wir fahren auf der Straße bergab und die Lichtersammlung, die wir von oben erblickten, verwandelt sich in Lehmhäuser, die zumeist von Petroleumlampen erleuchtet sind.
Wenn ich dachte, dass die Sicht von oben schön sei, war es, weil ich nicht nach oben schaute. Cachora ist ein kleines, an einem Berg angeschmiegtes Dorf, 60 km von Cusco entfernt. Der Himmel ist klarer als ein polierter Kristall. Die Sterne drängen sich zusammen und lassen dich verwirrt. Es ist unmöglich, sich nicht überwältigt zu fühlen von so vielen Lichtern. Wenn sich für jede Sternschnuppe ein Wunsch verwirklicht, hier werden alle deine Wünsche erfüllt. Der Himmel weigert sich, aus meinen Augen zu gehn, doch muß ich den Hals begradigen, es erwartet uns eine mehrtägige anstrengende Wanderung.
Sehr früh geht die Sonne in diesem Teil des peruanischen Gebirges auf. Die Sterne wurden von einem himmelblauen Meer und frischem Wind hinweggewischt. Die Maultiere beladen machen wir uns zu unserem ersten Wandertag bereit. Ziel ist, den Ort Santa Rosa zu erreichen. Der das Dorf verlassende Weg ist einfach und schön. Vom Berg herunterfließendes Wasser nützen wir zum Erfrischen des Kopfes. Die Maultiere sind zurückgeblieben. Während der Weg immer kurvenreicher wird, beginnt sich die Gruppe aufzulösen. Zitronenbonbons helfen, den Hunger zu überlisten. Das Wasser muß gut aufgeteilt werden, die Sonne brennt kräftig auf dem Kopf und das Geräusch des letzten Rinnsals hat sich in den Bergen verloren.
Das Tal blieb schon zurück, der sandige Weg ist unangenehm und das Lächeln der ersten Schritte macht der Ermüdung Platz. Den Ausssichtspunkt erreichend können wir in der Ferne die Inka-Stadt ausmachen, zu der wir unterwegs sind. Es ist die Zufluchtsstätte des letzten Inka und auch wir wollen dort vor dem hetzigen Getriebe der Stadt Zuflucht suchen, zumindest für einen Tag. Wir begegnen zurückkehrenden Wanderern, die sichtlich ermüdet sind, aber uns Kraft zum Weitergehen geben. Vom Aussichtspunkt geht es steil bergab nach Chiquiska, einem kleinen Ort mit reichlich Wasser, wo wir zu Mittag essen.
Die Gruppe hat sich völlig aufgelöst. Ein jeder läuft im eigenen Rhythmus. Die Hitze lässt nicht an die die Welt quälenden irdischen Dinge denken. Mit so einem Himmel vergisst man, wie sehr die Stadt verschmutzt ist. Man fühlt sich alleine auf der Welt. Man empfindet, dass jeder Schritt den Geist reinigt. Mit jedem Fall kommt die Kraft, sich wieder auzurichten. Die Füße brennen, aber tun nicht weh. Eine transzendentale Energie umgibt den ganzen Ort. Das Ziel ist klar und selbst die Blasen an den Füßen können es nicht den Gedanken entreißen. Bis zum Mittagessen bist du mehr gelaufen als in mehreren Tagen. Eine kleine Dose Thunfisch mit Zwieback ist genug. Wir pflücken einige Früchte, ni zuvor schmeckte eine Orange so gut.
Schon von weitem hört man das Schmettern des Flusses gegen die Felsen. Stark ist der Wunsch, Santa Rosa zu erreichen und obwohl der Weg nun weniger steil ist, verspürt man die Ermüdung. Die immer langsameren Schritte lassen uns wieder mehr zusammenfinden, um die schöne Landschaft gemeinsam mit den Freunden zu bestaunen, sowie das Verlangen, den Kopf in den Fluss zu stecken. Das Wasser ist sehr kalt und meine Füße in der Seligkeit. Die Sicht ist überwältigend. Immer mehr nähern wir uns dem Berg, der uns schon eine zeitlang begleitet und dessen geschmolzener Schnee unseren Sinn erfrischt. Wir müssen den Fluss auf einer Hängebrücke überqueren, die trotz aller Sicherheit eine Herausforderung für alle ist, die die Höhe fürchten.
Unsere Maultiertreiber verlieren keine Zeit und halten nicht an. Nur zum Essen gönnen sie sich etwas Ruhe. Die Kokablätter, die diese modernen Chasquis wie in der Zeit der Inkas kauen, geben ihnen auch in unsere Zeit Kraft.
Die Herausforderung ist, jetzt das Wasser zu erreichen, das die Maultiere tragen, da das Wasser des Apurimac nicht trinkbar ist. Mit erneuerten Kräften steige ich auf dem Zig-Zack-Weg schnell bergauf. Doch die vom Fluss verliehenen magischen Kräfte verschwinden anscheinend so schnell wie sie vergeben wurden. Wieder bin ich erschöpft und ohne Wasser. So weit von allem Bekannten entfernt beginnt mich ein Gefühl der Angst und der Ohmacht zu beschleichen. Meine Freunde hängen davon ab, dass ich den Maultiertreiber finde und ihnen Wasser lässt. Meine ganzen Kräfte beruhen darauf, meine Beine laufen rein automatisch. Die Fäuste in die Erde schlagend, um schneller voranzukommen, gleiche ich schon einem Maultier. Meine Pilgerfahrt hatte begonnen. Hatte ich jemals an Gott gezweifelt, hier war er, um mich meiner Sünden zu erinnern. Ich bereue alle, ich fühle mich miserabel, ich fühle mich alleine.
Den letzten Sonnenstrahlen vergleichbar tauchen andere Wanderer auf, die mir Wasser anbieten und einen Wanderstab als Stütze. Der Mensch, der mir die Hand recht, gibt mir die Kraft zurück, er entlockt mir ein Lächeln, das mich bis Tagesende begleitet. Mit einer kräftigen Anstrengung kann ich den Maultiertreiber einholen, der mein Schreien nicht wahrnimmt, da er nur auf einem Ohr hört.
Der Ort Santa Rosa empfängt uns mit offenen Armen und einem Platz zum Aufschlagen der Zelte. Die Ermüdung lässt uns den Umlauf der Erde langsamer erscheinen und dass wir alle uns langsamer bewegen. Diese Erscheinung wird von einer rückkehrende Gruppe zerstört. Als ob sie sich gerade vom Bett erhoben hätten, springen und laufen sie und von einer Quena begleitet singen sie Lieder. Ihre Freude hüllt uns ein. Obwohl viele mehr an Rückkehr denken, treiben uns die Fotos einer Digitalkamera zum Weitergehen an.
Früh stehen wir auf und frühstücken schnell. Wir hoffen nur, dass der Weg angenehmer mit uns sei und das Wassser uns auf keiner Stelle der Welt fehlen würde. Und wirklich ist der Weg nun angenehm bis liebenswürdig. Es gibt wieder herunterfließendes Wasser, die Berge geben uns Schatten und grüne Papageien in den Baumwipfeln erfeuen uns. Eine kleine Schlange kreuzt unseren Weg und die mitgebrachten Früchte verleihen das Gefühl, auf einem Teppich zu schreiten. Die Ruhepausen sind nun für das Gemüt. Die Landschaft ist so schön, dass es eine Sünde wäre, nicht anzuhalten, um sie zu beobachten. Versteckte Orchideen erspähen wir. Wenn der vorhergehende Tag nicht so schwierig gewesen wäre, könnten wir vielleicht dies Landschaften nicht so sehr wertschätzen.
Der Eintritt in Choquequirao ist monumental. Auf einmal befindet man sich an einem Ort mit der besten Aussicht des Tales. Den ganzen zurückgelegten Weg können wir beobachten. In Marampata, einer kleinen Ansiedlung innerhalb des Reservats der Inkafestung, findet man die Nachfahren der Inkas. Nur 20 Minuten vor Choquequirao setzen wir uns für einen Moment nieder, um die Pracht unserer Vorfahren aus einer gewissen Entfernung zu bestaunen. In der Zitadelle schlagen wir auf einer der Terrassen unsere Zelte auf. Die Gebäude sind anders als die zuvor beobachteten. Den Sonnenuntergang auf dem Hauptplatz beobachtend überkommt mich eine tiefe Beklemmung. Die Einsamkeit der letzten Zufluchtsstätte der Inkas betrübt mich, der Eindruck der Schlucht wie eine kaputte Vene, die sandigen Berge auf dem Weg, der beginnende Urwald vor seinen Toren, der schneebedeckte Gipfel als Wächter. Das Wasser fließt nicht mehr in den Kanälen, niemand betet mehr in den Tempeln und die Wasserreservoirs sind leer. Die Sonne versteckt sich frühzeitig zwischen den Bergen und mir scheint, dass man bis zum Meer der Erinnerungen blicken könnte, wenn nur einer von ihnen etwas niedriger wäre.
Am nächsten Morgen die Rückkehr. Das Lächeln verlässt mich nicht mehr. Choquequirao und Marampata sind Stellen, zu denen mein Sinn zurückkehrt, wenn ich Ruhe brauche. So wie meine Wanderstiefel in der Erde eine Spur hinterließen, so blieb auch von mir etwas auf diesem Weg zurück.